Achtundfünfzigkommaneun – und jetzt?

13.03.2016

58.9%, ein klares Nein. Aufatmen. Die letzten Wochen vor der Abstimmung waren ein Marathon der Argumente. Ende 2015 planten noch 60%, für die DSI zu stimmen – am Ende stimmten 60% dagegen. Was ist passiert?
Innerhalb kürzester Zeit schlossen sich Parteien, Bündnisse wie Operation libero, Rechtsprofessoren und Prominente zusammen. Auch apolitische Menschen sprangen auf den Kampagnenzug auf. Die Kampagne wurde auf allen Schienen gefahren: Medien, Social Media, Gespräche. Einfache Aussagen auf Plakaten – sie kamen nicht immer gut an, siehe Hakenkreuz am Zürcher Bahnhof. Doch sie hatten Wirkung. Was so oft der SVP zum Gewinn verhalf, arbeitete diesmal gegen sie. Ich bekam Whatsappmitteilungen von Freund_innen, wie diese: „No krass mit dr initiative, me würd DI usschaffe. Es git mer fasch eine ab dere..mir isch fasch d’zitig us dr hand gheit woni ds ha gläse gha vor paar wuche“. Die Erkenntnis, dass auch gute Freunde wegen Bagatelldelikten ausgeschafft werden könnten, hatte Wirkung. Je jünger die Nein-Stimmenden, desto häufiger war das der Grund, gegen DSI zu stimmen.[1] Das Abstimmen wurde zur Pflicht ausgerufen. Das war die Stärke dieser Gegenkampagne – sie war keine Kampagne, sondern eine Bewegung. Nicht nur die üblichen Verdächtigen, sondern endlich auch die so oft apolitische Mitte der Gesellschaft wurde aktiv. 63.1 Prozent der Stimmbevölkerung ging an die Urne, davon stimmte 58.9% nein. Und so wurde die Durchsetzungsinitiative zu Fall gebracht.
Doch halt. Haben wir jetzt so etwas wie eine neue politische Bewegung in der Schweiz? Vielleicht. Die SVP ist nicht unbesiegbar, das haben wir nun gesehen. Darauf müssen wir aufbauen. Trotzdem: Noch immer ist die rechtspopulistische SVP die stärkste Partei in der Schweiz, die Wirkung der SVP in der Vergangenheit wird so nicht einfach ungeschehen gemacht. Ausländerfeindliche Stimmung herrscht immer noch in der Schweiz. Es wird, wie so oft, vom „Volk“ gesprochen, dieser grossen, undurchsichtigen Masse. Dieses Mal hat das Volk mit 58.9% nein gesagt. Doch das Volk hat auch mit 41.1% ja gesagt: 1'375'058 Menschen finden die DSI eine tolle Sache. Das stimmt nachdenklich. Die Abstimmung zeigt: auch bei extremsten Vorlagen müssen wir Gegensteuer leisten – die Gegenkampagne war ein Kraftakt von allen Seiten. Es ist traurig, musste so viel tamtam um die Initiative gemacht werden, damit sie abgelehnt wurde. Eigentlich sollte eine Diskussion über Rechtstaat, Zweiklassengesellschaft, Verhältnismässigkeit und vor allem: Menschlichkeit nicht geführt werden müssen. Die Vernunft eines jeden Menschen sollte genügen. Die Abstimmung zeigt: was fehlt, ist Bewusstsein und Bildung. Ein Bewusstsein der Funktion des Rechtsstaates, Verständnis der Gewaltentrennung. Die Initiative wurde mit Emotionen gewonnen, wo eigentlich aus rein rechtlicher Sicht ein nein klar hätte sein sollen. Das heisst nicht, dass Emotionen in der Politik fehl am Platz sind, oder dass wir alle Jus studieren müssen. Das demokratische System der Schweiz müssen wir aber alle verstehen, damit wir uns darin zurechtfinden, aber auch Angriffe darauf erkennen können.
Die Abstimmung zeigt uns aber auch etwas schönes: Der Wille zur Politik in der Gesellschaft kann geweckt werden, Mobilisierung ist möglich. Die hohe persönliche Betroffenheit, die viele Jugendliche zum DSI nein bewegte, ist eine Chance für menschliche Migrationspolitik. Uns allen muss klar werden, dass Abstimmungen, die Ausländer_innen betreffen, immer alle betreffen. Es geht nicht um das Gegenüberstehen von Volk und Ausländer_innen, sondern um die gesamte Gesellschaft der Schweiz. Die SVP bietet Lösungen zu Problemen an, die es nicht gibt. Machen wir es richtig! Statt nur zu verhindern, gilt es nun zu handeln – agieren statt reagieren. Es ist höchste Zeit für linke Migrationspolitik. Nun gilt es, diese aktiv zu betreiben und linke Ideale auch in der Gesellschaft zu verankern. Die Stimmung in der Schweiz nach der DSI ist eine gute Chance dafür.
[1] Tamedia-Abstimmungsstudie 2016, Forschungsstelle Sotomo
Daria, Mitglied JUSO Bielingue